Papier sticht Plastik aus in Holzgerlingen
Von Martin Müller, aus der Kreiszeitung/Böblinger Bote vom 25.09.2015
57 000 umweltfreundliche Einkaufstüten aus Altpapier an 31 Fachgeschäfte verteilt – Beispielloses Projekt in der Region
Wie Einkaufen ohne Plastiktüten geht, das machen jetzt 31 Holzgerlinger Fachgeschäfte vor. Gestern wurden in dreierlei Formaten 57 000 besonders reißfeste Papiertüten aus reinem Altpapier ausgeliefert und an die Einzelhändler verteilt. Ein in der Region beispielloses Kooperationsprojekt.
HOLZGERLINGEN. Hinter der ebenso beispiellosen wie vorbildlichen Aktion stehen die überparteiliche Holzgerlinger Bürgerinitiative MOP (Mehrweg ohne Plastik), der Handels- und Gewerbeverein Holzgerlingen (HGH), Vertreter aller Gemeinderatsfraktionen und auch die Stadt Holzgerlingen und der Landkreis sind im Boot.
„Weniger Plastik in Holzgerlingen – weil mer Gscheidle send“ – mit diesem flotten Spruch wirbt das Holzgerlinger Altpapiertütle für den umweltbewussten Einkauf in Holzgerlingen. Für den Sprecher der MOP, BNU-Stadtrat Heinz Renz, ist mit der Übergabe des Tütles an die Einzelhändler gestern hinter der Mauritiuskirche „ein großes Etappenziel“ erreicht – und er hub an zu einer „Laudatio an die beteiligte Holzgerlinger Geschäftswelt“: Mit der Bestellung würden die Firmen deutlich machen, „dass wir Holzgerlinger diese ach so bequeme Art des Warenverpackens und Warentransports nicht mehr mitmachen.“ Und gleichzeitig würden die Geschäftsleute ihren Kunden das unübersehbare Signal geben, „dass wir aus der Verantwortung für unsere Umwelt, für unsere Kinder einer umweltfreundlichen Lösung den Vortritt vor der Bequemlichkeit“ einräumen. „Das ist eine starke, aber bitternotwendige Botschaft“, so Renz, „unser Planet hat schon genug zu tragen.“
In seinen Dank schloss er auch Bürgermeister Dölker ein; die Stadt habe den Weg der Bürgerinitiative empfohlen und mitgeholfen, dass auch der Abfallwirtschaftsbetrieb des Landkreises als Unterstützer der Aktion gewonnen werden konnte.
Ein typisch schwäbisches Spitzenprodukt
Bei dem Holzgerlinger Einkaufstütle handelt es sich nun keineswegs um irgendeine handelsübliche 08/15-Papiertüte, sondern um ein „typisch schwäbisches Spitzenprodukt“, so Renz. In der Tat ist das Holzgerlinger Tütle eine eigens entwickelte Spezialanfertigung der Dettenhausener Firma Apomore. Seit zwei Jahren macht sich Geschäftsführer Daniel Birkhofer daran, den Markt der Plastiktüten umzukrempeln – zunächst hat die Apomore GmbH Apotheken im Tübinger Raum für ihre umweltfreundliche Idee gewinnen können. Und mit seiner Geschäftsidee ist Birkhofer sogar bis ins Finale des deutschen Umweltpreises in Berlin vorgedrungen.
„Vor zwei Jahren hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich heute auf der Lkw-Rampe stehe und Tüten in Holzgerlingen verteile.“ Für Birkhofer war von vornherein klar: Das Tütle muss stabil sein. Es darf auch nicht reißen, wenn es schwer bepackt ist oder wenn im Regen auf Einkaufstour gegangen wird. Und es soll darüber hinaus, wenn es einmal ausgedient hat, als kompostierbares Auffangbehältnis für Biomüll zum Einsatz kommen. Auch hier tauchen nämlich immer wieder Plastiktüten als üble Dreingaben auf, die das Kompostgut verunreinigen.
Durch zwei Kunstgriffe ist dem Dettenhausener die Entwicklung einer besonders reißfesten Einkaufstüte aus reinem Altpapier gelungen. Kunstgriff eins: Altpapier kann bis zu acht Mal recycelt werden – doch im Laufe des Verfahrens werden die Papierfasern immer kürzer. Birkhofer greift deshalb auf Altpapier zurück, das in der Recyclingkette ganz vorne steht. Und zweitens: Das Papier wird im Herstellungsverfahren mit einem speziellen Naturharz besprüht, sodass sich die Fasern besser miteinander verbinden. Ein besonders dichtes Produkt, das auch nicht durchweichen kann, ist das Ergebnis: „Wir haben die Tüten im Test mit dem Gartenschlauch gewässert – und trotzdem nicht geschafft, dass es reißt.“
Für jedes 1000. Altpapier-Tütle wird ein Baum gepflanzt
Für Ioannis Delakos, den Beigeordneten der Stadt, handelt es sich um ein ebenso tolles wie außergewöhnliches Projekt: Ein „Paradebeispiel“ dafür, wie durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure eine so wichtige Aufgabe wie der Umweltschutz vorangebracht werden könne.
Holzgerlingens Apotheker Björn Schittenhelm fungierte als Schnittstelle von der MOP zum HGH und dessen Mitgliedsbetrieben. Für ihn handelt es sich um „das erste spannende übergreifende Projekt“ seiner Mandatszeit als Junggemeinderat. Mit dem Tütle sei Holzgerlingen im Besitz eines Alleinstellungsmerkmal nicht nur gegenüber anderen Kommunen, sondern auch gegenüber großen Konzernen und Ketten: Das Holzgerlinger Tütle erfülle somit eine doppelte Funktion. Es diene nicht nur der Umwelt, sondern es verhelfe auch dem lokalen Fachhandel zum Aufschwung, so seine Hoffnung.
Zu den jetzt ausgelieferten 57000 Stück kommen weitere 6500 dazu – sie werden mit der kommenden Marktblatt-Ausgabe, der Monatszeitung des Handels- und Gewerbevereins, an die Haushalte verteilt. Und einige Holzgerlinger Tütle hat Birkhofer noch in der Hinterhand – insgesamt 70 000 Stück wurden fabriziert. Dennoch ist für Birkhofer klar: Am Anfang eines jeden Altpapierprozesses stehen Bäume, die gerodet werden mussten. Deshalb lässt er nun im Rahmen der Aktion „plants for planet“ 70 Bäume in Mexiko als CO2-Absorber pflanzen – einen für jedes 1000. Holzgerlinger Tütle. „Wenn wir alle 6,1 Milliarden Plastiktüten, die in Deutschland pro Jahr herausgegeben werden, ersetzen würden, könnten wir 6,1 Millionen Bäume pflanzen“, so Birkhofer.
Indes soll mit dem Papiertütle in Holzgerlingen noch lange nicht Schluss sein. Dem Tütle könnte bald schon ein kleiner Bruder oder eine große Schwester folgen – in Gestalt eines Holzgerlinger „Täschles“.